Fenster zum Himmel

(Shikata Ga Nai)

1.) Vereinzelte Schneeflocken treiben durch das eingestürzte Dach.

Er sitzt still und unnahbar,

er hat keinen Ort, an dem er sein müsste.

In seinem staubbedeckten Armsessel faltet er die Hände

und denkt an abwesende Freunde.

Sie hatten am Meer gelebt.

Dann denkt er an die Wasser, die sacht um seine Füße spielten,

so weit landeinwärts hatte er sich leise gewundert wieso.

Und genau wie die Welle lässt er seine Erinnerungen anbranden und zurückweichen

In sein altes, geliebtes Land aus Erde und Himmel.

Grobe Vorhänge verbergen den seltsamen, unerforschten Blick zur Küste.

Er ist am Leben, aber er betrachtet sich als Gast.

Er ertrinkt in Stille und Zeit, zu alt, um neu anzufangen.

Also wartet er an seinem Fenster – seinem Fenster nach Westen.

Shikata Ga Nai

Shikata Ga Nai

2.) Eine Cousine hat ihn in ihre Obhut genommen.

Sie sagte, er würde dort sicherer sein.

Er widersprach nicht.

Nur über die Berge – ein fremdes Land,

das Städtchen ist sauber und nichtssagend

wie ihr süßlicher, abgestandener Geruch.

Dennoch versucht er dankbar zu sein, aber er vermisst die vertrauten Gerüche und Geräusche,

seinen Garten in der Dämmerung, den Regen auf den Straßen,

und irgendwo tief im Innern sind die Neuigkeiten, die er hört, niemals wahr,

er lächelt höflich und zieht sich sachte zurück,

fortwährend seine Reichtümer liebkosend: Einen Ring, drei Postkarten und einen Kamm,

das ist alles, was die Ruinen freigaben.

Er verebbt – eine ferne Glocke, ein verblasstes Gedicht

während er aus dem Fenster schaut – seinem Fenster nach Osten.

Aber bald schon geht er nach Hause,

er geht heim. . .

3.) Blasse Sonnenstrahlen stehlen sich durch Ziegel und Dachbalken.

Scherben von Jahren und Träumen

glitzern unter seinen Füßen.

Manche sprechen von der Krankheit, die das Wasser bringt.

Nun, er versteht nichts von diesen Dingen

und das Wasser schmeckt süß.

Obwohl die Stille noch immer nachklingt, liegt eine Fülle in der Luft,

Chrysanthemen blühen im Abendlicht,

und wenn es ein Tagtraum sein sollte, so kümmert es ihn wenig,

seine Vergangenheit ist verschwommen, aber sein Herz ist viel zu eng

denn er weiß, dass es ein Willkommen ist, auch wenn es sich ein bisschen wie ein Lebewohl anfühlt,

und endlich findet er die Stärke zu weinen.

Er sitzt auf den Bodendielen und sieht zu, wie Kraniche und Wolken vorüberziehen

über sein Fenster – sein Fenster zum Himmel.

Shikata Ga Nai

Shikata Ga Nai

Shikata Ga Nai

Shikata Ga Nai

(15. April 2011 – für die Überlebenden in Tohoku, Honshu, Japan)